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Zugfahrt des Grauens

Wir befinden uns im Zug der Transsibirischen Eisenbahn, südlich von Novosibirsk. Die Reise dauert noch drei Wochen, der Zug hält in der Zwischenzeit zwei Mal. Mit auf der Reise im gleichen Abteil befinden sich die Kabarettisten Ster- und Grissemann.

Grissemann schläft, Stermann liest den Falter, eine Qualitäts-Zeitung für linksliberale Möchtegern-Obdachlose. Wird es in den drei Wochen Zugfahrt gelingen, ein Wort von den internationalen Künstlern zu erhaschen? Oder gar ein ganzes Interview - unbeschönigt von der Agentur? Nun, ich sitze gegenüber, harre der Dinge, gebe die Hoffnung nicht auf.

Das aktuelle Programm der beiden heißt „Harte Hasen“. Ich habe noch dunkel in Erinnerung, dass es etwas mit Glück und China zu tun hat. Ich bin übrigens auch ein Hase, das aber nur nebenbei.

Nun, plötzlich, ein erster Versuch, das Eis im Waggon zu brechen. Stermann legt die Zeitung weg, alles konzentriert sich. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, wenn es im Zug nicht so gerumpelt hätte. Jahrelang habe ich mich auf dieses Interview vorbereitet, habe stundenlang den Einstiegssatz geübt. Ich sage zu den beiden: „Das Zarte wird ja immer überdroht!“ Grissemann schnarcht.

Sie haben mich nicht gehört, weil gerade in diesem Moment ein Zug in der Gegenrichtung vorbeidonnerte. Noch 2 Wochen und 6 Tage.

Beide Weltstars lassen den Bart gekonnt wachsen. Obwohl erst ein Tag im Zug, sieht man den Bärten schon 3 Tage an. Wie gesagt, gähnende Langeweile. Dann ein Schuss, der Schaffner hat einen Tschetschenen erschossen, weil dieser keine Fahrkarte bei sich hatte. Geschieht ihm schon recht.

Nächster Tag. Grissemann schläft seit drei Tagen ununterbrochen. Bei Stermann regt sich leises Unbehagen. Er hat erfahren, dass der vermeintliche Tschetschene gar keiner war, nur wie ein solcher aussah und der Schaffner einfach schoss, weil der das Gesicht nicht leiden konnte. „Wird er mich mögen?“, fragt er sich besorgt.

Zwei Wochen später. Grissemann hat sich einmal kurz im Schlaf bewegt, sonst geschah nichts Aufregendes. Stermann hadert noch immer mit dem Gedanken, dass der Schaffner ihn auch erschießen könnte, weil er ihm nicht gefällt. "Dabei ist doch immer Grissemann der Eitlere von uns beiden", denkt sich der Superstar.

Am nächsten Tag foltert der Schaffner zwei Frauen. Zwar nur mit schmachtenden Blicken und belanglosem Gesülze, aber für Stermann ist es Folter. Ihm rinnt beim Gedanken an den Schaffner der Angstschweiß über den Nacken. Zuerst flirten, dann foltern, dann erschießen. Aber das hätte er wirklich nicht verdient, denkt er sich.

Grissemann verschluckt sich beim Schnarchen, kam aber nicht dabei auf. Er sieht bleich aus, Fliegen kreisen über seinem Kopf. Stermann hält ihm die Nase zu. Nichts, keine Reaktion. Erst nach 10 min. macht Grissemann den Mund auf.

Noch drei Tage. Heute geht es rund. Erstens hat der Schaffner Geburtstag, zweitens ist er heute noch nicht ganz besoffen, drittens sehr launisch, und überhaupt kontrolliert er heute zum zweiten Mal die Fahrkarten.

Zwei siebenjährige Kinder hat er schon mit großem Geschrei aus dem fahrenden Zug geworfen. Mitten in der Einöde! Minus 40 Grad draußen. Tundra! Sie werden da draußen keine fünf Minuten überleben …

Der Schaffner baut sich vor Stermann auf. „Die Fahrkarte!“ „Muss wohl beim KGB gewesen sein“, denkt sich Stermann. Nervös kramt er in seiner Jacke, sucht die Fahrkarte. „Und wenn er mich doch für einen Tschetschenen hält?“, denkt sich der internationale Entertainer. Mit zittriger Hand gibt er dem Schaffner die Karte. Der Schaffner zwickt sie und bietet ihm einen Schluck aus seinem Flachmann an. "Jetzt ist alles aus, das machen die vorher immer!", denkt sich Stermann.

Doch nichts dergleichen geschieht. Stattdessen brüllt der Schaffner Grissemann an, um ihn aufzuwecken: „Die Fahrkarte!“ Grissemann rührt sich nicht. Stermann will ihm helfen, rüttelt ihn, um ihn zu wecken. Nichts. Verzweifelt durchsucht er die Taschen von Grissemann, um seine Fahrkarte zu suchen. Nichts.

Die Geduld des Schaffners ist zu Ende. Er greift in seine Jackentasche, zieht die Pistole heraus, zielt auf Grissemann.

In diesem Moment springe ich auf, drücke Grissemann meine Karte in die Hand, werfe mich vor den Schaffner und flehe: „Nehmen sie mich, nicht ihn!“ Der Schaffner drückt ab, ich falle getroffen um. Grissemann wacht auf.

Seit dieser Zugfahrt hat Stermann graue Haare und Grissemann leidet unter Schlafstörungen.

Homepage: http://www.stermann-grissemann.com

Tourplan zu "Harte Hasen".

 

Dirk Stermann (hinten), Christoph Grissemann (mitte), Hase (vorn) - Foto (c) von Udo Leitner

Kommentare (1)

Oh ja...

Wenn ich nicht wüßte, was geschah, ich hätte gehofft, dass es so gewesen!
Wieder mal ein Gusto-Stückerl, sehr geehrter Herr Franz! Grüße aus den tiefwinterlichen Alpen von dem, aber nicht DEM Haider!

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